Das Zuckerdöschen
Manch Gegenstände verbergen eine Geschichte, deren Bedeutung bis ins tiefste Mark erschüttert.
Es war an einem Freitagabend. Das Kerzenlicht schimmerte bereits nach draußen in die Dunkelheit und ließ bereits, dort unten vor der Haustüre stehend, die Hoffnung aufkommen, dass wir genau in dieser Wohnung auch zu Gast sind. Genau so kam es dann auch. Wir, das war eine Gruppe interessierter Weltenbummler, die bei der VHS Gelderland die „Weltreise durch Wohnzimmer“ gebucht hatten. Dieses Mal ging es nach Geldern in die traumhafte Altbauwohnung von Frau Dechange. Die 76-jährige Niederländerin, die mit 20 Jahren nach Deutschland ausgewandert ist, erzählte von ihrem Leben.
An einem Punkt ihrer Erzählungen stand sie auf und öffnete die kleine Vitrine hinter sich. Behutsam nahm sie etwas daraus hinaus, um es uns daraufhin zu präsentieren. Es war ein kleines Zuckerdöschen. Behutsam strich sie über das Döschen und schien mit ihren Gedanken ganz weit weg. Stockend berichtet sie dann von der Geschichte hinter diesem Unikat. Damals, in den 30er und 40er Jahren, als die Niederländerin noch ein kleines Mädchen war und mit ihrer Familie in den Haag lebte, waren sie sehr gut mit einem jüdischen Ehepaar befreundet. Die Familie wohnte auf der anderen Straßenseite und oft wurde zusammengespielt. Fliehen, das kam für die jüdische Familie, die bald darauf ein kleines Kind gebar, nicht infrage. Vielleicht weil sie nicht erahnen konnten, was bald darauf geschehen sollte.
Was für Gedanken hatte sie, als sie das Zuckerdöschen den Nachbarskindern, in dem Wissen, das sie niemals zurückkommen würde, mitgab?
Als die Zeiten schlimmer wurden, wurde klar, dass die junge Familie gehen muss. Mit nur einem Koffer. Heimlich gaben die jüdischen Nachbarn darum ihrer niederländischen Nachbarsfamilie einige Stücke mit rüber, die ihnen am Herzen lagen. Wie eben diese Zuckerdose. Noch heute fragt sich Dechange, wie es wohl damals war, als die Mutter der jüdischen Familie die Zuckerdose zum ersten Mal in den Händen hielt. Was sie für Gedanken hatte, als sie das Döschen immer reinigte und, so berichtete sie mit bebender Stimme, was sie für Gedanken hatte, als sie das Döschen schlussendlich einen der Nachbarskinder, in dem Wissen, das sie niemals zurückkommen würde, mitgab. Die Atmosphäre im ersten Stock des Altbaus war auf einmal ruhig. Alle Anwesenden spürten, wie, wortwörtlich, zum Greifen nah, die Geschichte, die sich vor über 70 Jahren abgespielt hat, noch heute ist. Ich musste schlucken. Was mögen jemanden, der fliehen muss und nur einen Koffer mitnehmen kann und sich von seinen liebsten Stücken trennt, für Gedanken durch den Kopf gehen? Während ich derzeit zig von Umzugskartons packe und mitnehmen darf, was immer ich will, wird mir die Absurdität immer bewusster.
Und doch bewegt und beeindruckt mich diese Frau unheimlich. Die in einer Zeit, in der, wie ich ebenfalls letzte Woche erfahren habe, immer noch Juden ernsthaft gefragt werden, warum sie denn damals nicht vergast wurden, für ein gemeinsames Europa einsteht. Vielleicht brauchen wir mehr von solchen Menschen, die nicht sich nicht nur drücken, sondern geradeheraus sagen, was sie denken.