STM: „Zur schönen Aussicht“
Es verwirrt. Es irritiert. Es macht nachdenklich und vor allem ist es erschreckend aktuell.
„Zur schönen Aussicht“. Das klingt nach Heimatfilmen. Nach Idylle. Nach einer Zeit, in der alles noch gut war. Also erwartet den Zuschauer ein gemütliches Heimatstück eingetaucht in Melancholie?
Wohl kaum. Mit der Spielzeitpremiere „Zur schönen Aussicht“ von Ödön von Horváth rüttelt das Ensemble des Schlosstheaters Moers die Zuschauer auf und lässt sie keinesfalls gemütlich entspannen, sondern fordert Aufmerksamkeit. Aufmerksamkeit zwischen Monotonie und dem Hang, einfach „ja“ zu sagen und blindlings mit dem Strom zu schwimmen.
Im Hotel „Zur schönen Aussicht“
Aber von Beginn an. Ich muss gestehen, der Anfang des Stückes hat mich verwirrt. Fast das gesamte Ensemble sitzt auf Stühlen an Tischen auf der Bühne. Auffällig: Alle haben ähnlich farbige Kleidungsstücke an und alle tragen eine blonde Perücke. Das Bild ist komisch, skurril und irritiert. Die Zuschauer sehen das Personal des Hotels „Zur schönen Aussicht“. Streitigkeiten sind an der Tagesordnung. Im Fokus steht die Baronin, gespielt von Magdalena Artelt. Alle Figuren scharwenzeln um sie herum. Es scheint, als werden alle magisch von ihr angezogen, als hat sie die Fäden in der Hand. Eindrucksvoll, ja fast abartig ersichtlich wird dies als sie sowohl die Angestellten als auch ihren Bruder anspuckt. Widerwärtig und doch wehrt sich niemand wirklich. Die Macht, die die Baronin hat, ist stets gegenwärtig.
Und dann kommt da ein junges Mädchen. Christine (gespielt von Elisa Reining). Sie sieht gänzlich anders aus als alle anderen. Hat braune Haare, trägt ein pinkes Kleid und behauptet vom Hoteldirektor Strasser, gespielt von Matthias Heße, schwanger zu sein. Sie wirkt naiv, unschuldig und der Zuschauer schließt sie ins Herz. Als die Baronin Wind davon bekommt, dass Strasser ihr nicht gehörig war, entgleist die Situation. Christine wird zum Opfer auserkoren und ohne ihre Anwesenheit wird ein Komplott beschlossen. Christines Glaubwürdigkeit soll infrage gestellt werden.
Zwischen Schock und Ekel
Die darauf folgende Szene ist für mich die Hauptszene des Stückes, offenbart sie doch die manipulative Kraft der Baronin. Alle Protagonisten stehen auf Tischen und beschimpfen Christine, die in der Mitte steht. Es weckt Erinnerungen an ein Kinderspiel: ein Kind wird in die Mitte geschubst, während alle anderen im Kreis stehen und es auslachen. Ich bekomme eine Gänsehaut und möchte am liebsten aufstehen und Christine beschützen vor diesem Mob. Ich spüre Schock und Ekel zugleich. Zwei starke Gefühle, die mich am Abend noch lange begleiten werden.
Dann: der Wechsel. Christine hat Geld. Viel Geld. Die Protagonisten ändern ihre Meinung und scharwenzeln nun, da sie um des Geldes wissen, um sie herum. Doch Christine will das nicht. Sie fährt am Ende zurück. Allein.
In der Schlussszene stehen die Stühle und Tische wieder genauso da, wie in der Anfangsszene, so, als ob nichts gewesen wäre. Alles wieder auf Anfang.
Und seien wir ehrlich, kann es nicht genau so wieder passieren?
Fazit: Ich muss gestehen, ich brauchte etwas, um in das Stück einzutauchen, aber dann traf es mich mit voller Wucht. Wer ein unterhaltsames, „bequemes“ Familienstück sehen möchte, sollte zu Hause bleiben. Wer sich aber ein Stück mit viel Tiefgang und Platz zum Nachdenken anschauen möchte, ist genau richtig. Sehr gut gefallen hat mir zudem Elisa Reining in ihrer ersten Rolle als Außenseiterin Christine. Von naiv und schuldig zu reflektiert und reif – die Entwicklung ihrer Rolle stellt se unglaublich eindrucksvoll da.
Titelfoto: Lars Heidrich / STM
*Werbung durch Presseeinladung