Das Sterben der Innenstädte
Warum nach und nach immer mehr Geschäfte schließen, wie jüngst Seconrella in Moers, – und was wir dagegen tun können.
Es war immer da. Jeden Tag, wenn ich auf meinem Weg zur Arbeit an dem kleinen Lädchen an der Ecke vorbei gelaufen bin, musste ich lächeln. Die Dekoration lud zum Verweilen ein und die zahlreichen Lichter schufen eine ganz besondere Atmosphäre. Jedes Mal freute ich mich, dass es solch einen besonderen Laden in unserer kleinen Stadt gibt und nahm mir immer vor, dort demnächst unbedingt mal einkaufen zu gehen.
An dem einen Morgen, als ich wieder, wie gewöhnlich, um die Ecke ging, blieb ich auf einmal wie angewurzelt stehen. Er war weg. Oder besser gesagt, der Laden war noch da, aber er war leer. Die hübsche Dekoration war weg und die nette Verkäuferin, die ich immer durch das Schaufenster gesehen hatte, war auch nicht mehr da. Stattdessen hing dort ein Zettel: „Geschlossen wegen Geschäftsaufgabe.“ Und hineingegangen bin ich nicht ein einziges Mal.
Diese kleine Geschichte ist fiktiv. Es gab ihn nie, diesen einen kleinen Laden an der Ecke, aber er könnte stellvertretend für viele andere Läden stehen. Für viele Läden, an denen ich tagtäglich vorüber laufe und die ich für selbstverständlich als Teil unserer Innenstadt erachte. Genauso wie es Seconrella war.
Die Geschichte von Seconrella hat vor circa achteinhalb Jahren auf der Neustraße in Moers begonnen. Christel Caradonna hat dort das Geschäft für Vintage und Secondhand Mode, sowie Mode auf Anfertigung, eröffnet. Ruth Braun, gelernte Herrenmaßschneiderin, stieß vor sechs Jahren mit hinzu. Zusammen haben sie der Moerser Innenstadt mit Seconrella einen Laden gegeben, in denen Kunden einmal in die Vergangenheit reisen und ihre Leidenschaft für Vintage ausleben konnten. „Manchmal, wenn Kunden aus großen Städten wie Köln oder Hamburg bei mir waren, waren die ganz begeistert, dass es solch einen Laden in Moers gibt“, berichtet Ruth Braun. In der Tat, Seconrella war bei Kunden aus der Vintage-Szene weit über die Grenzen der Grafenstadt hinaus bekannt.
Wie kann es aber dann sein, dass solch ein Juwel nicht läuft?
Vor zwei Jahren, nachdem Braun sich 2016 entschieden hat, den Laden zu übernehmen, zieht die Moerserin mit ihrem geliebten Laden in die Moerser Altstadt. Auch dort ist neben dem Verkauf von Secondhand und Vintage Mode ein wichtiger Bestandteil geblieben: Die Vintage-Workshops. In regelmäßigen Abständen veranstaltet Ruth Braun Workshops, bei denen Frauen einmal eine Zeitreise in die Vergangenheit machen können und vom Profi lernen, wie man sich damals geschminkt, frisiert und gekleidet hat. Ich selbst habe 2016 an einem teilgenommen und dort gelernt, wie man einen Lidstrich zieht. Der Workshop ist eine unglaublich tolle Sache, bei der am Ende bei mir nicht nur eine tolle Erfahrung im Fokus stand, sondern auch das Kennenlernen von tollen Menschen.
Genau das ist es auch, was Ruth Braun an ihrem Job immer sehr mochte: der Kontakt zu anderen Menschen, die die gleiche Leidenschaft hegen, wie sie: „In den letzten Jahren ging die Frequentierung aber deutlich zurück und viele haben auch die Nase gerümpft, wenn sie in den Laden gekommen sind“, berichtet Braun und fügt resigniert hinzu, „vielleicht sind wir einfach zu alternativ für Moers.“ Gerade deshalb hat Braun schon seit gut anderthalb Jahren begonnen, immer mehr auch auf Vintage-Märkte zu fahren und dort ihre Sachen anzubieten: „Dort sind alle begeistert von unseren Sachen und es macht einfach richtig Spaß.“
Zusammen mit dem Druck, genug verdienen zu müssen, um die nicht gerade günstigen Mieten in der Innenstadt zu zahlen, kam auch die Erkenntnis, dass einfach nicht genügend Kunden kommen – und kaufen: „Solche Geschäfte leben davon, dass nicht nur geschaut, sondern auch gekauft wird“, erklärt Braun. Der Druck wurde zunehmend größer, die Kreativität immer weniger: „Und irgendwann fragt man sich, warum mache ich das eigentlich alles?“, gesteht die Moerserin.
Als dann der Moment kam, an dem sich die kreative Herrenmaßschneiderin noch einen anderen Job suchen musste, um alles zahlen zu können, war klar, dass eine Änderung her muss: „Mein Herz schlägt nun mal für Vintage und das soll auch weiterhin so bleiben“, erklärt Ruth Braun. Aber, sie will wieder Spaß an der Arbeit haben. Wieder ihre kreativen Ideen umsetzen können. Wieder richtig loslegen. Deshalb sieht sie der Entscheidung, den Laden zu schließen, auch mit einem weinenden und einem lachenden Auge entgegen: „Den Online-Shop und die Vintage-Workshops wird es ja weiter geben. Zudem werde ich viel auf verschiedenen Märkten unterwegs sein – mit Menschen, die Lust auf die Mode haben.“
Über das große Interesse, seitdem bekannt ist, das Seconrella schließt, ist Ruth Braun etwas verwundert: „Viele sagen mir, dass es so schade ist, dass wir schließen, aber ich frage dann nur, wart ihr ein einziges Mal hier einkaufen?“ Die meisten leider nicht.
Abschiedsmatinee im Seconrella in Moers am 23. Februar
Ein letztes, kleines Adieu gibt es für alle Kunden am Sonntag, 23. Februar, um 11.30 Uhr in Form einer Abschiedsmatinee. Wer kommen mag, darf sich da gerne von dem einzigartigen Laden und der bezaubernden Besitzerin persönlich verabschieden.
Und das Innenstadtsterben? Geht munter weiter. Wieder steht ein weiterer Laden leer. Wieder werden irgendwann Nachfolger gefunden, die sich den gleichen Aufgaben stellen müssen und denen man nur das Beste wünscht.
Und die Moral von der Geschichte …
Wisst ihr, es ist nicht so, dass ich nicht auch ab und zu im Internet bestelle, keine Frage. Es ist praktisch, geht schnell und kommt bequem zu mir nach Hause. Aber genauso gerne bummele ich auch durch die Stadt, erfreue mich über kleine, individuelle Läden und genieße die Atmosphäre.
Und als ich heute von einem Termin nach Hause gekommen bin und wieder an einem Laden vorbeigegangen bin, den ich täglich passiere und mir jedes Mal denke, wie schön er aussieht, bin ich stehen geblieben und hineingegangen und habe etwas gekauft. Einfach mal so, denn ich möchte, dass dieser Laden auch noch morgen da ist. Und übermorgen auch.
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